Ariens 915067 - 1740 User Manual Page 32

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
IV. Intellektuelle Qualität der Prager Uminstrumentierung
Der unbekannte Prager Bearbeiter muss auch ein empfindsamer Dramaturg
gewesen sein. Dank der erweiterten Instrumentierung gelang ihm eine über die
Urfassung hinausgehende Ausdeutung des Textes. Die neue, stark erhöhte Rolle
der Bläser, vor allem der Klarinetten, spielt eine wichtige Rolle dabei. Um das
zu verdeutlichen, müssen wir zuerst etwas bei Giuseppe Petrosellinis Libretto
verweilen, das in einer rezenten Neubewertung durch Paolo Gallarati
19
von seinem
Ruf befreit wurde, ein schwaches Libretto zu sein, und dessen kompletten Text
die Náměšť-Partitur (Hauptquelle der Prager Bearbeitung) enthält. Letzteres ist
wichtig, weil es wohl ein Indiz dafür ist, dass die Prager Fassung 1796 zwar mit dem
in der Abschrift nachgetragenen deutschen Text gespielt wurde, aber ursprünglich
für Aufführungen in italienischer Sprache gedacht war.
Gallarati sieht die finta giardiniera in einer Tradition von Opern, die alle die gleiche
Moral verkünden (und eine gute Dosis Gesellschaftskritik beinhalten!): Seelenadel
ist sämtlichen Adelstiteln weit überlegen. Mozarts Violante, alias Sandrina, steht in
einer Linie mit A. Scarlattis tragisch-pathetischer Griselda (Libretto: A. Zeno, nach
G. Boccaccio) und Piccinnis komisch-sentimentaler Cecchina (in La buona figliola,
Libretto: G. Goldoni); sie kündigt bereits Rossinis Cenerentola an. Mozarts „dramma
serio-comico“ spielt verschiedene weit entfernte stilistische Ebenen gegeneinander
aus, entweder alternierend oder miteinander verschmelzend: [1] die höhere Ebene
der Tragödie, in der Person der Sandrina; [2] die mittlere Ebene der Komödie, durch
Ramiro/Arminda und Serpetta/Nardo vertreten (sie bilden das zweite und dritte
Liebespaar = das adlige, galante und das zum Volk gehörende, unterhaltsame) und
[3] die niedrige Ebene der Farce, mit dem Podestà aus Mailand, der so lächerlich ist,
dass er nicht einsieht, warum die anderen ihn belächeln (Finale I: „lasciarmi solo
com’un ridicolo“). Zu dieser Ebene gehört ebenso der nicht weniger lächerliche
Graf Belfiore aus Rom, der versucht, Arminda mit Klischees aus der Barockoper
zu beeindrucken, beim Podestà mit dem angeblich bis zu Tiberius und Caracalla
bekanntlich nicht den sanftmütigsten Römischen Kaisern zurückreichenden
Stammbaum seiner Familie prahlt, und in seiner Wahnsinnsarie „Già divento
freddo, freddo“ (Nr.19) das Wort „caso“ (Schicksal) mit „naso“ (Nase) reimen
lässt. Petrosellinis gewagtes Konzept besteht darin, dass er diesen egozentrischen
Narren an die moralisch weit überlegene Sandrina bindet. So verschieden diese
beiden Menschen auch sind, sie müssen, als erstes Liebespaar, die Oper beenden,
und es ist ein schwieriger Weg dahin.
19. In: W. A. Mozart, In: W. A. Mozart, A. Mozart, A. Mozart, Tutti i libretti d’opera a cura di Piero Mioli, Rom 1996
Die Prager Uminstrumentierung hilft uns, diesen schwierigen Weg als einen
„Prüfungsweg“ zu deuten, im Sinne der Prüfungsoper des ausgehenden 18.
Jahrhunderts im Allgemeinen und Mozarts Zauberflöte im Besonderen. Wenn die
Klarinetten, diese von Mozart so geliebten Neulinge des klassischen Orchesters,
meistens in Verbindung mit den Flöten, mit ihrem reinen klaren magischen Klang
die alten Oboen der Urfassung ersetzen, scheinen sie ein purifizierendes Licht auf
die beiden „Prüflinge“ Sandrina und Belfiore, zu werfen: das Licht der Vernunft, das
erst am Ende der Oper über die Dunkelheit der Vorurteile siegen wird. Ohne dass
ein Wort des Librettos geändert wurde, redet die neue Instrumentierung in einer
Sprache, die vielen von Mozarts Prager Bekannten, Freunden und Logenbrüdern
verständlich war, weil sie durch musikalische Symbolik freimaurerisches
Gedankengut ausdrückte.
Mit wie viel mehr Tiefgang als in der Urfassung Petrosellinis Libretto durch die
erweiterte Instrumentierung gedeutet wird, dürften folgende Beispiele zeigen:
Nr.4 Sandrina beklagt sich über das bittere Schicksal der Frauen. Es hat sie
persönlich, als Violante, so stark getroffen, dass sie sterben möchte. Sie singt aber
nicht in einem einer tragischen Heldin angemessenen Stil: Die Marquise muss doch
gegenüber Ramiro die Gärtnerin „spielen“, in einem leichteren musikalischen Stil
also, der besser zu ihrer „verstellten“ Identität passt. Die Prager Fassung fügt der
Streicherarie der Urfassung eine „verklärende“ Bläserharmonie hinzu, die ihre
wahre Identität verrät.
Nr.6 Belfiore betritt die Bühne zum ersten Mal. Nur in der Prager Fassung ahnt
man, dass mit ihm, wie lächerlich er auch wirkt, etwas Besonderes passieren wird.
Klarinetten ersetzen die Oboen der Urfassung. Zusammen mit zwei zusätzlichen
Flöten deuten sie an, dass mit dem Orchestervorspiel – in der „mystischen“ Tonart
Es-Dur der Prüfungsweg anfängt, der ihn, besser spät als gar nicht, zu einem
Menschen machen wird.
Nr.8 Die „Stammbaumarie“ Belfiores in der Dresdener Abschrift der Prager
Fassung wurde sie dem Podestà zugewiesen ist die in einer komischen Oper der Zeit
obligatorische „Register-“ oder „Katalogarie“ des Stückes. Der Standardbesetzung
des vorklassischen Orchesters (zwei Oboen, zwei Hörner) wurden schon in der
Urfassung zwei Trompeten und Pauken hinzugefügt. Die Prager Fassung verwendet
das komplette Orchester. Der Aufzählung aller berühmten Vorfahren Belfiores
entspricht eine Aufzählung aller verfügbaren Orchesterinstrumente, deren
selbstgefällige Virtuosität die Eitelkeit des Grafen imitiert und verspottet.
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