Ariens 931016 S-12 User Manual Page 6

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Ich bin in meinem Leben nur einmal bekehrt worden, und wie jene Leute, die mit starrem
Blick an Ihrer Türe klingeln, möchte ich darüber reden. Es geschah 1966, und es geschah in
New York. Ich war frisch von der Uni, arbeitete in der City und ging ab und zu in die Oper.
Komplett ohne musikalischen Hintergrund kam mir die Entscheidung, welches Stück anzu-
sehen, wie ein Würfelspiel vor: Mal gewinnst du, mal endest du im Faust und fragst dich,
wieso zum Teufel du überhaupt hingegangen bist.
Giulio Cesare? „Veni, vidi, vici“ und all das Zeug … Beverly Sills. Nicht die Met, sondern
die City Center Opera. Die neue Met war gerade damit beschäftigt, ihr neues Haus und
die Saison mit Antony and Cleopatra von Samuel Barber zu eröffnen, doch war ich, schon
damals, genug bei Trost, um von sowas Abstand zu halten. Händel. Er hat doch den
Messias und die Feuerwerksmusik geschrieben, also warum nicht?
Zack! Boing! So wie in den Comicbüchern oder wie in der Bibel – da war ich, auf der
Straße nach Damaskus, und der Donner kam vom Himmel. Ich stürzte vom Ross, und ich
war nie mehr dieselbe Person.
Würde ich jene Aufführung heute besuchen, dann beklagte ich die Tatsache, dass Cäsar
von einem Bass gesungen wird, dass die Inszenierung überdreht ist und dass Kleopatra
wie Carmen Miranda in einem Kleid von Valentino aussieht, der nur die Ananas und die
Bananen im Kopfschmuck fehlen. Ananas hin oder her, die Sills war atemberaubend und
der Abend magisch, hatte das Zeug, mich zu verwandeln. Hier war Händels Musik, und
hier waren Leute, die sie singen konnten, und hier waren die Verzierungen, die er ge-
schrieben – oder auch nicht geschrieben haben könnte. Nach solchen Erlebnissen gibt es
kein Zurück, und in meinem Fall gab es auch keines. Dies ist die Ur-Oper, die goldene
Standarte, und Kleopatra ist die Rolle, wofür manche Soprane wohl beraten wären, ihre
Seele zu verkaufen. (An dieser Stelle gestehe ich, dass ich dasselbe über die Alcina sage.)
Die Publikumsreaktion über jene Aufführung lässt sich am besten durch einen der auf
YouTube geposteten Kommentare wiedergeben, der über 40 Jahre später zu einem Clip
gemacht wurde, wo die Sills „Da tempeste il legno infranto“ singt, offenbar das einzige
Fragment, das von jenen verzauberten Vorstellungen übriggeblieben ist. In eine Art weißes
Tischtuch gekleidet, macht die Sills nicht viel mehr, als vier Minuten lang zu knicksen und
dreimal um ein kleines Sofa herumzugehen, doch als Reaktion auf ihren Gesang schreibt
der wahre Gläubige: „Die Königin der Nacht kann sich zurück ins Bett legen.“ Ja.
Händels Kleopatra ist die Königin von Ägypten, die Julius Cäsar verführte, den Herrscher
über die damals bekannte Welt. Der Altersunterschied zwischen den beiden betrug
mehr als 30 Jahre, eine Zahl, die inzwischen durch einen anderen Herrscher über die
römische Welt vergrößert wurde. Eine Erbin der ptolemäischen Dynastie, welche seit
der Zeit Alexanders des Großen Ägypten regiert hatte, herrschte Kleopatra zunächst
gemeinsam mit ihrem Vater und dann mit ihren zwei Brüdern, mit denen beiden sie
verheiratet war. (Wikipedia vermerkt dazu lakonisch: Aus ihren Verbindungen gingen
keine Kinder hervor.)
Plutarch berichtet von ihrer Ankunft in Cäsars Palast in einer Bettrolle oder einem Teppich
und sagt in seiner Cäsar-Biografie von ihr einzig, sie sei eine „vorwitzige Kokette“ gewesen.
Erst später, als er über Mark Anton schreibt, verändert sich Plutarchs Kleopatra-Porträt: Ihr
Einfluss sei bösartig gewesen, die Kraft, welche „viele der Leidenschaften erregte und zur
Raserei trieb, welche zuvor in ihm noch versteckt und still gelegen hatten“.
Um den veränderten Ton zu verstehen, muss man vielleicht wissen, dass zur Zeit, in der
Plutarch schrieb, Antonius und Kleopatra als Selbstmörder über hundert Jahre besiegt
und tot waren. Und Rom war zum Imperium geworden, gegründet von ihrem bittersten
Rivalen Oktavian, der als Kaiser Augustus geherrscht hatte. Der ethische Freipass, den
Plutarch Cäsar gibt, könnte damit erklärt werden, dass Oktavian Cäsars Neffe und Erbe war:
Das frühe Römische Kaiserreich war kein Ort, an dem es ratsam war, ungnädige Bemer-
kungen über einen Vorfahren des Imperators fallen zu lassen. Wie alle Machthaber be-
mühten sich auch diejenigen von Rom, die Realitäten des Regimes in Respektabilität zu
kleiden. Und Kleopatra konnte so als Symbol von Liederlichkeit serviert werden, vor der
Augustus Rom bewahrt hatte.
Was für eine bessere Schurkin konnten die Historiker den Einwohnern des sich formenden
Weltreiches liefern als das sexuelle Raubtier, die afrikanische Königin, deren Ränke und
Perversität den besten Römer verdorben hatte? Kaum war Kleopatra im Grab erkaltet, da
flog der erste Schlamm. Afrikanerin, Frau, ehrgeizig, nicht vertrauenswürdig, promiskuitiv,
unloyal, eine die Rom nicht liebte. Die Liste wurde länger und länger und gewann an
Einflusskraft, während die Jahrhunderte vorüberzogen. Wer wäre denn ein besseres Ziel
von Frauenhass, wenn nicht eine fremde Königin, darüber hinaus sexuell wählerisch und
daran interessiert, ihre eigene Macht zu vergrößern? Eigenartig ist allerdings, dass der Inzest
mit ihren Brüdern nur selten erwähnt wird, als ob etwas solchermaßen Abstoßendes jen-
seits jeder Diskussion sei.
Obwohl ihr Name und Charakter verteufelt wurden, hat die Legende von ihrem Charme
und ihrer Schönheit überlebt. Was ihre sagenhafte Schönheit betrifft, so muss man nur die
während ihrer Herrschaft geprägten Münzen anschauen und sich darüber wundern, denn
sie zeigen eine großnasige Frau mit einer Frisur aus kleinen Zöpfchen. Zeitgenössische
Berichte sprechen von ihrer Schönheit, doch ausführlicher und öfter beschreiben sie ihren
Charme und heben die eigenartige Schönheit ihrer Stimme hervor und ihre Fähigkeit, sich
für jedermann ansprechend zu machen. Die eigenartige Schönheit ihrer Stimme. Die
eigenartige Schönheit ihrer Stimme …
Dies ist die verworrene, widersprüchliche Sammlung von weiblichen Eigenschaften, welche
sich in Händels Kopf anhäufte und, später, auf seinem Schreibtisch. Als Opernheldin ist sie
ein Geschenk des Himmels. Sie ist jung, als der Vorhang aufgeht, doch ist sie eine Frau
von starkem Willen, der es kaum schwerfällt, Cäsar und später Antonius zu verführen, die
mächtigsten Römer ihrer Zeit.
Händel war aber nicht der einzige Komponist, der den Drang verspürte, ihr eine Stimme
zu verleihen. Hasse schrieb eine Serenata, in der ihre Rolle – sitzen Sie fest auf Ihrem Stuhl?
– von Farinelli gesungen wurde, die des Antonius hingegen von der Altistin Vittoria Tesi.
Massenet konnte weder ihrem lasterhaften Ruf noch den Ver lockungen der Schlange
widerstehen und versetzte die Schlussszene in Kleopatras Grabmal. Nachdem sie Antonius
eine falsche Nachricht von ihrem Tod zukommen ließ, muss sie fassungslos mitansehen,
wie ihr sterbender Liebhaber hereingetragen wird. In der Annahme, sie sei tot, hatte er
sich erdolcht, überzeugt, dass ein Leben ohne sie sinnlos sei. Und auf seinen Tod hin
entblößt sie ihre Brust und hält sie der Schlange entgegen. Wo ist die Sopranistin, die sich
dies entgehen lässt?
Der 25-jährige Berlioz versuchte sich in seinem dritten und erfolglosen Anlauf, den Prix de
Rome zu gewinnen, an Kleopatras Geschichte. In seinen Memoiren beschreibt er seine
Heldin als „Königin von Frevelei und Verschwendung“. In Bezug auf den Entscheid der
Jury, ihm den Preis nicht zuzugestehen, hatte er Stil genug zuzugeben, dass „es ein wenig
schwierig war, eine einlullende Musik zu schreiben für eine ägyptische Königin, welche
Donna Leon ı Tribut für Kleopatra
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